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Freiheit durch Rechtsformenwahl? – Verwaltungsrechtliche Rechtsformenlehre und verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz in der Corona-Krise

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von NICOLAS ZIEGLER

Schon vor der Bund-Länder-Vereinbarung gegen die Ausbreitung des Coronavirus, hat Bayern mit Wirkung zum 21.3.2020 Ausgangsbeschränkungen erlassen. Die Regelung hat Kritik erfahren, aber nicht vorwiegend aufgrund des Inhalts. Dies soll auch in diesem Beitrag so bleiben. Hier soll es um die gewählte Rechtsform der bayerischen Ausgangsbeschränkung gehen. Hierzu gibt es bereits eine erste aufschlussreiche Gerichtsentscheidung.

Das VG München hat im Rahmen eines Antrags auf Eilrechtsschutz am 24. März 2020 die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen die Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 20.03.2020 angeordnet. Einer der Gründe: Die Ausgangsbeschränkung ist aufgrund ihrer Konzeption als Allgemeinverfügung (Art. 35 S. 2 BayVwVfG) formell rechtswidrig.

Verwaltungsakt oder Rechtsnorm?

Das Gericht beginnt die Begründung seines Beschlusses mit der Feststellung, dass die Ausgangsbeschränkung vom 20.3.2020 eine im „Gewand eines Verwaltungsaktes gekleidete, beinahe verkleidete Rechtsnorm“ darstellt. Angesprochen ist also das zentrale Problem von öffentlich bekanntgegebenen Allgemeinverfügungen: ihre Unterscheidung zur Rechtsnorm.

Meist reichen zur Unterscheidung formale Kriterien: Steht Allgemeinverfügung oder Rechtsverordnung in der Überschrift? Gibt es eine Rechtsbehelfsbelehrung? Wurde die sofortige Vollziehbarkeit angeordnet? Gibt es einen einzelfallbezogenen Anlass und wurde er begründet? Die Allgemeinverfügung vom 20.3.2020 ist – gemessen an diesen Kriterien – formell gesehen eindeutig ein Verwaltungsakt.

Diese „Verkleidung“ kann eine abstrakt-generelle Regelung aber nicht zum Verwaltungsakt machen. Art. 35 S. 2 BayVwVfG modifiziert den Satz 1, doch abgesehen vom Merkmal des „Einzelfalls“ gelten auch für eine Allgemeinverfügung die Voraussetzungen des Art. 35 S. 1 BayVwVfG. Bei einer personalen Allgemeinverfügung (Art. 35 S. 2 Var. 1 BayVwVfG) wie hier, braucht es eine konkret-generelle Regelung. Also ein konkreter Sachverhalt wird für die davon Betroffenen geregelt. Der Adressatenkreis muss zum Zeitpunkt des Erlasses also zumindest hinreichend bestimmt werden können, wenn er schon nicht genau feststeht. An diesen Kriterien festzustellen, ob eine Rechtsnorm oder ein Verwaltungsakt vorliegt, ist meist schwierig. Hier ist es aber schon recht deutlich:

Angesichts der Adressierung der Allgemeinverfügung an „Jede[n]“ und der Fülle an unbestimmten Ausnahmen vom grundsätzlichen Verbot, die eigene Wohnung zu verlassen (siehe Ziffer 5. a-h), kann hier kaum mehr von der Regelung eines Einzelfalls für bestimmbare Personen gesprochen werden. Im Gegenteil: Die Aufzählung der Ausnahmetatbestände in Ziffer 5 verdeutlicht in ihrem Wortlaut („insbesondere“), dass sie nicht abschließend zu verstehen ist.

Die Verfügung lässt also nicht erkennen, wer in welcher konkreten Situation von ihr betroffen ist. Stünde der Adressatenkreis mit Erlass schon fest, würde die Verfügung  den Zielen des IfSG auch nur schlecht dienen.

Nun stellt sich die Frage, warum eine offensichtlich abstrakt-generelle Regelung als Verwaltungsakt „verkleidet“ wurde. Genauso wie das Halsband mit der Aufschrift „Katze“ den Hund nicht zur Katze macht, vermag die Formenwahlfreiheit der Verwaltung ebenfalls nicht eine solche Umetikettierung zu bewirken.

Schnelle Verkündung und Fehlerfolgen als Argumente?

Roman Lehner wies im Verfassungsblog bereits darauf hin, dass in vielen Ländern die schnellste Möglichkeit zur Verkündung und des Wirksamwerdens der Maßnahmen eine Rolle gespielt haben mag. In Bayern hat man hierfür sogar den Art. 41 Abs. 4 Satz 4 BayVwVfG geändert: Bisher galten öffentlich bekanntgemachte Allgemeinverfügungen frühestens am „Tag“ nach der Veröffentlichung als bekanntgegeben und konnten nach Art. 43 Abs. 1 S. 1 BayVwVfG erst dann wirksam werden. Nun ist „Tag“ durch „Zeitpunkt“ ersetzt worden. Allgemeinverfügungen können also praktisch sofort wirksam werden. Auch die Fehlerfolgen verleiten zur Wahl der Allgemeinverfügung. Als Verwaltungsakt wird die Ausgangsbeschränkung bei Rechtswidrigkeit nur anfechtbar, als Rechtsverordnung ist sie grundsätzlich nichtig.

Unwillkommener Rechtsschutz?

Nicht nur offensichtlicher Etikettenschwindel begrenzt die Formenwahlfreiheit der Verwaltung, auch das Verfassungsrecht setzt Grenzen. Eine dieser Grenzen ist Art. 19 Abs. 4 GG. Das BVerfG liest hieraus zwar keinen Anspruch auf bestmöglichen Rechtsschutz, doch eine bewusste Rechtsschutzverkürzung muss von einem Rechtsgut von Verfassungsrang flankiert werden. Angesichts der Unterschiede im Rechtsschutz gegen Allgemeinverfügungen (Anfechtungsklage) und Rechtsverordnungen (Normenkontrollantrag, § 47 VwGO), könnte man den verwegenen Gedanken zulassen, dass diese Unterschiede und nicht die richtige dogmatische Einordnung der Ausgangsbeschränkung handlungsleitend bei der Formenwahl waren.

Eine Allgemeinverfügung mag zwar für eine Vielzahl von Adressaten gelten, doch sie bleibt ein modifizierter Verwaltungsakt, der jedem Adressaten gegenüber einzeln gilt. Der Rechtsschutz der VwGO bleibt aber defizitär, da er die Modifikation bezüglich der Mehrzahl der Adressaten nicht mitgeht: Ein Kläger kann nur die ihn möglicherweise in seinen eigenen Rechten verletzenden Teile angreifen. Das ist insoweit konsequent, da die VwGO Popularklagen verhindern will.

Noch deutlicher zeigt sich das Rechtsschutzdefizit durch die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung. Sie gilt bei Verwaltungsakten nur inter partes. So hat das VG München trotz formeller Rechtswidrigkeit die aufschiebende Wirkung nur bezüglich der beiden Antragssteller angeordnet. Weitere 13 Millionen Bewohner Bayerns müssten ebenfalls vor die Verwaltungsgerichte ziehen. Zwar lässt sich schon mit einem Bruchteil dieser Zahl ein Druck auf die Verwaltung aufbauen, doch bei einem abstrakt-generellen Inhalt, der aber von jedem Betroffenen einzeln angegriffen werden muss, kann man den Rechtsschutz jedenfalls nicht mehr effektiv nennen.

Der Rechtsschutz gegen eine Rechtsverordnung wäre hingegen wesentlich vorteilhafter: Die Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe prüfen die Rechtmäßigkeit der Rechtsnorm umfassend. Mit einer Normverwerfungskompetenz, die erga omnes (§ 47 Abs. 5 S. 2 VwGO) wirkt, sind sie mit einem schärferen Schwert gegen die Verwaltung ausgestattet, als bei Allgemeinverfügungen. Das gilt auch trotz des Anwaltszwangs für die Normenkontrolle nach § 67 Abs. 4 S. 1 VwGO. Es ist nicht davon auszugehen, dass sich eine große Zahl von Klägern ohne Anwalt gegen eine Allgemeinverfügung vor ein Fachgericht wagt. Bei der Normenkontrolle müsste diese „Zahlschranke“ theoretisch nur von einem Kläger genommen werden.

Dem festgestellten Rechtsschutzdefizit steht hier die Sicherung der Handlungsfähigkeit der Verwaltung gegenüber. Angesichts der Tiefe und des Umfangs der Grundrechtseingriffe durch die Ausgangsbeschränkung, wiegt das Rechtsschutzdefizit zwischen Verwaltungsakt und Rechtsverordnung aber besonders schwer und zeichnet die richtige Rechtsform deutlich vor. Die Rechtsverordnung hat aber auch einen entscheidenden Vorteil bei der Durchsetzung der Ausgangsbeschränkung: Der Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit muss in einem (materiellen) Gesetz geregelt sein, um Art. 103 Abs. 2 GG zu genügen. Nur so können Verstöße gegen Rechtsverordnungen im Sinne des § 32 IfSG nach § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG geahndet werden.

Fazit

Aufgrund der offensichtlich abstrakt-generellen Regelung und einem der Eingriffstiefe nicht gerecht werdenden Rechtsschutz, hätte die Ausgangsbeschränkung nicht als Allgemeinverfügung erlassen werden dürfen.

Als Reaktion des Beschlusses des VG München hat das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege die Allgemeinverfügung noch am 24. März 2020 durch eine Rechtsverordnung ersetzt (die der VGH München im Eilverfahren am 30.3.2020 für rechtmäßig gehalten hat). Ministerpräsident Söder erwähnte dies auf einer Pressekonferenz am 24.3.2020. Diese schnelle Reaktion verdient Anerkennung in der unübersichtlichen Situation derzeit. Wer allerdings weiterhin auf Allgemeinverfügungen setzt, muss sich nach dem Beschluss des VG München den Vorwurf gefallen lassen, Rechtsschutz in Krisenzeiten als lästiges Hindernis zu empfinden.

Zitiervorschlag: Nicolas Ziegler, Freiheit durch Rechtsformenwahl? – Verwaltungsrechtliche Rechtsformenlehre und verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz in der Corona-Krise, JuWissBlog Nr. 49/2020 v. 03.04.2020, https://www.juwiss.de/49-2020/


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